Kann man einzelne Artikel des Grundgesetztes einfach streichen?
Der Bundestagsabgeordnete Michael Theurer (FDP) hat vorgeschlagen eine Debatte über Artikel 15 Grundgesetz (GG) zu führen und schlug unter anderem vor diesen zu streichen. Art. 15 (GG) sieht die Möglichkeit vor, "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel […] zum Zwecke der Vergesellschaftung" in Gemeineigentum zu überführen. Der Anstoß der Debatte fußt auf die in Berlin stattfindenden Demonstrationen zur Aktion "Deutsche Wohnen enteignen".
Meine fragt hat nun nichts mit dieser politischen Auseinandersetzung zu tun, sondern ist eine juristische.
Kann man rechtlich gesehen einzelne Artikel des GG einfach so streichen? Art. 79, Abs. 1 des GG sagt doch deutlich, dass das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des GG ändert oder ergänzt. Schau ich mir jedoch die Anlage von allen Änderungen des GG an, sehe ich, dass manche Artikel im Laufe der Jahrzehnte einfach weggefallen sind (Zuletzt Art. 74a und 75 GG am 28.08.2006).
P.S. Ich kenne die Ewigkeitsklausel des Art. 79, Abs. 3. Mir geht es hier konkret um Artikel die man ändern oder eben komplett streichen (?) kann.
4 Antworten
Du hast bereits den Art. 79 GG genannt. Damit gehe ich davon aus, dass dir die grundlegenden Dinge bekannt sind, 2/3 etc. Der Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG meint das eine Änderung der Verfassung nur dann erlaubt ist, wenn der Verfassungstext geändert wird. Also keine Verfassungsänderung ohne Verfassungstextänderung. Als Jurist:in spricht man hier von der Urkundlichkeit der Verfassung. Eine Streichung eines Artikels ist also durchaus möglich und fällt unter die Änderung.
Das "weggefallen" hat in der Hinsicht eher redaktionellen Charakter. Denn als Jurist:in arbeitet man oftmals auch mit älteren Gesetzen bzw. Urteilen die solche zitieren. Dann macht es Sinn, dass man schnell merkt »oh hier hat eine Veränderung stattgefunden« bzw. die Nummerierung in den Gesetzen bleibt erhalten; dennoch wird das nicht durchgehend so gehandhabt. Es kommt durchaus vor, dass sich Gesetze verschieben oder sich ein gesamtes Gesetzbuch in seiner Nummerierung ändert. Solche Reformen sind jedoch dann schon sehr große Unternehmungen des jeweiligen Ministeriums.
Einfache Gesetze sind natürlich auch änderbar. Hier sind die Hürden auch weit geringer. Es kommen nicht ganz täglich, aber doch wöchentlich Änderungen - auch Streichungen - raus.
Nur in vielen Bereichen tut sich der Gesetzgeber etwas schwer zu entschlacken. Streichungen gefallen nicht so sehr wie Neukreationen.
Bleiben wir bei dem Beispiel: Artikel 15 des Grundgesetzes.
Dieser Artikel ist Teil des Grundrechtekatalogs. Kann man ihn einfach abschaffen bzw. streichen, wie der Abgeordnete vorschlug? Nein, das kann man nicht! Denn es gibt noch den Art. 19, und hier besonders Absatz 2:
- In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.
Das ist eine klare Bestimmung.
Es ist erschreckend, wie gering die Kenntnis unserer Verfassung bei manchen Abgeordneten heutzutage ist! Sie gehören in kein demokratisches Parlament!
MfG
Arnold
Die Wesensgarantie wendet sich jedoch nach allgemeiner Ansicht in erster Linie an den Gesetzgeber, solange er sich außerhalb des Verfahrens der Verfassungsänderung und der für diese geltenden besonderen Anforderungen bewegt. Innerhalb des Verfahrens darf selbstverständlich auch ein Grundrecht in seinem Wesen geändert werden.
Ist auch, wenn du meiner juristischen Expertiese misstraust, unter der BVerfGE 109, 279 [310 f.] nachlesbar.
Verfassungsänderungen sind nicht an der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zu messen. Diese Garantie bindet den einfachen, nicht aber den verfassungsändernden Gesetzgeber. Eine Antastung des Wesensgehalts im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG kann zwar im Einzelfall zugleich den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdegehalt eines Grundrechts beeinträchtigen. Der Wesensgehalt ist aber nicht mit dem Menschenwürdegehalt eines Grundrechts gleichzusetzen. Eine mögliche Kongruenz im Einzelfall ändert nichts daran, dass Maßstab für eine verfassungsändernde Grundrechtseinschränkung allein der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Menschenwürdegehalt eines Grundrechts ist.
nur Art 1 und 20 sind im 79 als unveränderlich bezeichnet.
Alles andere kann man - mit 2 Drittelmehrheit - ändern.
Von einer Streichung des Art 15 (Enteignung wie im Sozialismus) wären einzelne Enteignungen "zum Wohle der Allgemeinheit" nicht ausgeschlossen, das steht nämlich schon im Art 14 .. incl der Sozialbindung des Eigentums.
Man kann also Eigentümern von Immobilien etc Auflagen machen, Steuern kassieren, Mieterrechte im Gesetz regeln etc etc.
Soviel zur Frage ob es möglich ist: ja es ist ..
Ich finde die Idee, den Staat generell wieder als Unternehmer zu betätigen, ziemlich verrückt, das hat nie funktioniert, und des wäre eine Schnapsidee .. man siehe nur wie staatliche Unternehmen wie die Bahn oder die Bundeswehr gemanaged werden.
Oder in Berlin .. das kann man sich ja ein grosses Immoblilienprojekt anschauen: den Flughafen.
Und selbst wenn die Stadt Berlin die Wohnung nicht gegammeln liesse, die Mieten nicht erhöhen würde (die anderen Bundesländer zahlen ja ..) .. woher soll man das Geld für NEUE Wohnungen nehmen, wenn man alles für die Entschädigung der Eigentümer von BESTEHENDEN ausgegeben hat. Das scheint mir eine Idee, so durchdacht wie der Brexit.
Abgesehen von den nach Ewigkeitsklausel geschützten Artikeln können Änderungen mit 2/3-Mehrheit im Bundestag UND im Bundesrat vorgenommen werden.
Vielen Dank für diese Antwort. Jetzt habe ich es verstanden. Deswegen steht im GG bei manchen Artikeln (weggefallen). Der Artikel an sich steht jedoch weiterhin im GG. Wie ist das bei einfachen Gesetzten? Dort kann mann einzelne Paragraphen einfach streichen, oder?